Vor einigen Wochen habe ich über den angehenden politischen Skandal in Südkorea und seinen Hintergrund berichtet. In der Zwischenzeit ist viel passiert, und Lotti und ich sind vor einigen Wochen in Seoul gewesen, um uns erster Hand ein Bild von der Lage zu machen.

Okay, zugegebener Weise stimmt das nicht ganz. Wir sind nicht als investigative Journalisten nach Seoul gereist, sondern waren auf einem intensiven und anstrengenden Kurztrip in die südkoreanische Hauptstadt. Intensiv, weil wir von Landung bis Abflug nur 42 Stunden hatten, und anstrengend, weil wir Freitag Nacht um 23:00 Uhr gelandet sind, die letzte Ubahn in die Stadt genommen haben und meine Freunde direkt ohne Umweg im Club getroffen haben, bis sieben Uhr morgens gefeiert haben wie typische Austauschstudierende in Korea, fünf Stunden geschlafen haben und dann den ganzen Tag unser Sightseeing Program abgearbeitet haben. Aber ich schweife ab.

Höhepunkt des Ausflugs war mit Sicherheit für uns beide der Samstagabend. Nach einem wohlverdienten Korean BBQ Abendessen mit einer koreanischen Freundin sind wir zu dritt zum Gwanghwamun Square gelaufen, wo sich abends um halb sieben schon mehrere hunderttausend Menschen zusammengetroffen hatten. Auf unserem Weg dorthin könnten wir sehen, dass aus allen Straßen und allen Ecken der Innenstadt Massen an Menschen in Richtung des zentralen und größten Platzes der Stadt strömten. Überall waren an den Straßen kleine Stände aufgebaut, von denen man sich an verschiednen Protestplakaten bedienen konnte und die Kerzen verkauft haben – einige echt, viele mit LED-Licht. Anfangs wurden von den Demonstranten scheinbar hauptsächlich echte Kerzen benutzt, bis ein Politiker abfällig meinte, „es seien ja nur Kerzen; ein Windstoß genüge, um sie erlöschen. Raffiniert wie Koreaner sind wechselten sie bei der nächsten Samstagsdemonstration zu batteriebetriebenen LED-Kerzen, die auch bei stärksten Böen weiter leuchten.

Und diese Analogie lässt sich eins zu eins auf die koreanischen Demonstranten übertragen. Sie trotzen dem bitterkalten Winter und versammeln sich zu Hunderttausenden  auch bei Minusgraden, um den Rücktritt oder die sofortige Amtsenthebung ihrer Präsidentin zu verlangen.

Denn das koreanische Volk ist wütend. Um noch einmal zusammenzufassen: Ende Oktober stellt sich heraus, dass die Tochter einer der Präsidentin sehr nahe stehenden Freundin durch die Beziehungen ihrer Mutter das rigorose Aufnahmeverfahren der renommierten Ewha-Frauenuniversität umgehen konnte und somit unterqualifiziert angenommen wurde. Weil der Zugang zu (universitärer) Bildung in Korea eine unbeschreiblich hohe Wichtigkeit hat, ging die Aufdeckung dieses Schummelns wie eine Schockwelle durch die Gesellschaft. Eine Untersuchung in die Beziehungen der Mutter, Choi Sun-sil, und der Präsidentin Park Geun-hye wurde einberufen, und bis heute noch wurden mehr oder weniger täglich neue Facetten des Korruptionsskandals aufgedeckt.

Vor allem anderen beschäftigt die Koreaner der Verbleib der Präsidentin im April 2014, als die Fähre Sewol unterging und über 300 Menschen starben, darunter hauptsächlich Oberstufenschüler. Präsidentin Park trat erst sieben Stunden nach dem Untergang vor die Öffentlichkeit; diese Zeitverzögerung wurde nie erklärt, weshalb der Regierung bezüglich der Rettung Überlebender Handlungsunfähigkeit vorgeworfen wird. Die Menschen in Korea haben unterschiedliche Hypothesen: Hinweise deuten darauf hin, dass Park zu diesem Zeitpunkt für eine Schönheits-OP unterm Messer lag; andere wiederum sagen, sie sei derart von ihrer Freundin Choi abhängig gewesen, dass sie sie erst kontaktieren und um Rat fragen musste. Weil Choi zu diesem Zeitpunkt aber in Deutschland gewesen sein soll und wegen der sieben Stunden Zeitverschiebung noch schlief, musste Park warten. Wirklich bewiesen werden können diese Theorien allerdings (noch) nicht.

Wenn sich zukünftige Historiker mit diesen Demonstrationen auseinandersetzen werden, wäre ich nicht überrascht, wenn man sie aus einer gesamthistorischen Perspektive mit den Montagsdemonstrationen unmittelbar vor dem Fall der Mauer in eine Reihe reiht. Nicht, weil die Samstagsdemonstrationen in Seoul zu dem Sturz eines autoritären Regime führten, sondern wegen der Qualität der Proteste und ihren Einfluss auf die koreanische Politik.

Allem voran sind alle zwölf bisherigen Massendemos extrem friedlich abgelaufen. Viele Millionen Menschen haben sich in den letzten Monaten auf dem Gwanghwamun Platz zusammengetroffen, um den Rücktritt und die Strafverfolgung der Präsidentin zu verlangen. Der Rekord liegt bei 1,7 Millionen Menschen an einem Samstagabend, und trotzdem wurde in dieser gesamten Zeit nicht eine einzige Person von der Polizei festgenommen. Den Demonstranten ist es sehr wichtig, dass alle Demos ausschließlich friedlich ablaufen. Tanzt ein Demonstrant doch mal aus der Reihe und pöbelt die Polizei an, wird er sofort von der Menge unter Kontrolle gebracht. Uns wurde auch erzählt, dass die Demonstranten nach der Demo den anwesenden Polizisten Beifall schenken und ihnen für ihre Arbeit danken. Am Ende sind diese nämlich der selben Meinung: Park muss weg. Tatsächlich hat eine Umfrage ergeben, dass neun von zehn Koreanern einen sofortigen Rücktritt der Präsidentin unterstützen. Wahrscheinlich spielt diese Tatsache eine große Rolle, dass die Proteste derart friedlich ablaufen: Es gibt keine wirkliche Opposition.

Uns hat die Atmosphäre der Proteste beeindruckt und bewegt: Hunderttausende Menschen sitzen bei Minusgraden mit ihren Kerzen und Plakaten in der Hand auf dem Boden oder stehen am Rand des Platzes. Ganz vorne ist eine große Bühne aufgestellt, an der Chöre singen und Konzerte aufgeführt werden. Im Internet kann man sich vorher anmelden, wenn man vor der Menge etwas kundgeben möchte.

Am 9. Dezember jubelte das Land auf: Das Parlament hatte erfolgreich für das Amtenthebungsverfahren eingeleitet. Die Präsidenten wird um alle ihre Aufgaben erleichtert und spielt in der Politik ab sofort keine Rolle mehr, bleibt aber noch in ihrem Amt, bis der Oberste Gerichtshof eine endgültige Entscheidung fällt. Dazu hat er 180 Tage Zeit, währenddessen der Premierminister amtierender Präsident wird. Dieser ist allerdings unter dem Volk ebenso unbeliebt, da er als der Präsidentin zu nahe stehend angesehen wird. Deswegen haben sich die folgenden Samstagsdemonstrationen umorientiert und verlangen nun vom Obersten Gerichtshof ein schnelles bzw. sofortiges anerkennen der Entscheidung des Parlaments.

Park Geun-hye hingegen hat ausgeschlossen, zurückzutreten und erwartet ebenfalls die Entscheidung des Gerichtshofs. Sollte sie letztendlich ihres Amtes enthoben werden, wird es innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen für das Präsidentenamt geben. beeindruckend ist, dass auch nach zwölf Wochen quasi das gesamte Volk hinter ihrer Bewegung stehen. Ohne Zweifel haben sie deutlich gemacht, dass sie nicht nachgeben werden, ehe Korea einen neuen Präsidenten hat. Ban Ki-moon, der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, möchte kandidieren. Ob er erfolgreicher sein wird als Park? Aktuell in den Nachrichten: Ban soll während seiner Zeit als koreanischer Außenminister US$230.000 als Schmiergeld erhalten haben und ist scheinbar in einem Promo-Video des pseudo-christlichen Kults der Freundin der Präsidentin zu sehen. Das kann ja was werden!

One thought on “„Sperrt sie ein!“”

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