Wahnsinn. Die Zeit ist abgelaufen. Ich sitze im Flugzeug von Kathmandu nach Frankfurt über Istanbul und komm nicht drauf klar wo die Zeit geblieben ist. War es nicht letzte Woche, dass ich für Marketing und Sales gebüffelt habe? War es nicht vorgestern, dass ich am Strand von Rabat die Wellen am Leuchtturm brechen sah? War es nicht gestern, dass ich in den Ruinen von Karthago stand und den erhabenen Blick über Tunis genoss? Und war es wirklich heute, dass mich Chadni mit Tränen in den Augen am Flughafen verabschiedet?

Zeit verliert Bedeutung, Verlässlichkeit und Stütze. Zeit fasse ich zusammen, sortiere aus und schaffe in ihr Kategorien. Station 1 in Marokko zum Auslandssemester an der EGE Rabat. Station 2 in Marokko zum ersten Praktikum bei der Hanns-Seidel-Stiftung. Station 3 in Tunesien im dortigen Regionalbüro der HSS. Und nun Station 4 in Nepal zum letzten Praktikum in der Deutschen Botschaft Kathmandu. Doch was befindet sich hinter diesen förmlichen Etappen? Ist der Ort wirklich entscheidend für die Erfahrungen, die ich mache?

Die Zeit trickst mich aus und nimmt mir die Fähigkeit, an alles zu denken und jeden einzelnen zu erinnern. Wie auf einer langen Wanderung sehnte ich mich schon in Tunis zurück nach Rabat und ärgerte mich über meine eigene Gesättigtheit, die mich Marokko zuletzt nicht mehr in vollsten Zügen hat genießen lassen. Wie auf einer langen Reise wurde ich überdrüssig, rastlos und sehnsüchtig, und dadurch blind für die Schätze vor meinen Augen. Doch kann ich zu jederzeit wertschätzen, was vor mir liegt? Kann ich durch die Gassen von Kathmandu ziehen und bei jedem Schritt daran denken, wie wertvoll dieser Moment ist, und dieser und dieser? Kann ich zu jederzeit mit geöffneten Augen blicken, die präsent meine Umgebung wahrnehmen und darin in jeder Sekunde das Positive erwarten? Ich brauche die Kategorien, das Sortieren, das Abschalten. Ich brauche auch mal einen Tag im Expat-Idyll, an dem ich ganz bewusst nicht zu den Weltkulturstätten des Tals gehe. Ich brauche ein israelisches Restaurant, um das nepalesische Daal Baat wieder schätzen zu können. Und ich brauche ein Stück deutsche Lindt-Schokolade, um wieder glücklicher zu sein mit dem was ich habe.

Oft ist Reisen der Drahtseilakt, das Balancieren zwischen Ruhen und Rennen, Weichen und Weg, Genießen und Geben. Es ist anstrengend und erfordert eine unglaubliche Kraft. Wie eine Familie, die beim Erdbeben ihr Hab und Gut verliert, muss auch ich Wiederaufbau betreiben. Ich muss mit kühlem Kopf meine Sachen zusammensuchen, organisieren und vorbereiten. Ich muss den Schritt wagen, die gestellte Weiche gehen und tapfer Schritt vor Schritt auf dem Sprungbrett setzen. Ich muss mich ins kalte Wasser stürzen, springen, fallen, aufkommen, eintauchen und hoffen, nicht auf dem Boden zu schrappen. Ich muss auftauchen, Luft holen, den Blick heben, mich orientieren und staunen. Weiterschwimmen, einen Rhythmus finden, in Bewegung bleiben ohne an das Ende meiner Kraft zu gelangen. Mitschwimmer suchen, mich in neue Gruppen wagen, mich darin erkennen, entfalten, erleben. Mir eine Insel suchen, auf der ein kleines Häuschen steht, das ich mir einrichte, sodass es mir Ruhe und Rückzug bietet. Ein kleines Zuhause fernab vom Festland. Ich stelle mich auf Kokosnüsse, Mangos oder Zuckerrohr ein, nehme hin, was es gibt und bin dennoch glücklich, wenn ich eine Scheibe Brot mit Körnern und Biss erhalte. Ich freunde mich auf mit den Inselbewohnern, lerne von ihnen und schaue zu. Ich bringe mich ein, versuche etwas von dem anzubieten, das ich in mir trage. Ich lote aus, versuche ein Gleichgewicht zu halten zwischen Geben und Nehmen, zwischen Teilen und Einpacken. Ich erlebe Sternstunden, stehe unter dem weiten Himmel, sehe den Orion, den kleinen Wagen und die Kassiopaia, die mir immer treu sind. Erblicke die ersten Sonnenstrahlen vom Dach der Welt, lasse die Tage lang werden, strebe nach der Nacht, die in die lärmendsten Ecken Ruhe bringt. Nutze die Tage, die sich entfalten wie die Blumen im Morgengrauen. Nutze das Licht, das Bewegung bringt und mich voranschreiten lässt. Nutze die Stunden, die Minuten und Sekunden, fülle sie mit Leben, mit Freude, mit Lachen.

Auf der Höhe der Zeit überkommt mich Panik. Ich erschrecke über das Fortschreiten der Zeit, will sie aufhalten, festhalten, abhalten davon, kontinuierlich meine Stunden zu klauen. Ich lehne mich auf, drücke mich dagegen, mache noch mehr, gehe raus, nutze die Tage, werde noch aktiver, versuche alles mitzunehmen, mache Listen, gehe von Besonderheit zu Besonderheit, weiter und weiter und weiter.

Doch die Zeit ist weise, lässt sich nicht einengen, nicht in die Schranken weisen und erst recht nicht aufhalten. Sie kennt keine Weichen, sondern nur ihr eigenes Fortlaufen und rinnt unabdinglich durch das Stundenglas, Sekunde für Sekunde. Sie baut Druck auf, trennt, was sich nicht trennen soll. Zieht einen Strich durch die Rechnung und lässt Erdrutsche in die kleinen Pfade rauschen. Doch what to do? Die Zeit ist weise und gibt genug für die, die genießen. Für die, die rausgehen, die die Sonne tanken, die das Licht in ihre Herzen lassen, die die Schönheit der Welt zu erkennen bereit sind, gibt sie genug von sich. Dicke genug gibt sie denen, die sie zu schätzen wissen, die empfänglich sind und sie nicht verschwenden. Alles hat seine Zeit. Ruhen und Rennen, Weichen und Weg, Genießen und Geben. So nehme ich sie, wie sie ist. Tauche bis zur letzten Minute ein, packe meine Sachen frühzeitig, gehe glücklich bis ans Ende des Wegen. Wie glücklich ich bin! Wie gesegnet, wie reich beschenkt!

Nun sind die Taschen gepackt, die Andenken verstaut, die Erinnerungen vorbereitet. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge tauche ich wieder ein, lasse all das zurück, was ich mir aufgebaut habe. Trete aus der Bambushütte mit ihrem Lehmverputzten Vorhof und ihrer Feuerstelle aus Backsteinen und Holz. Laufe durch die Alle aus Farnen und Bananenstauden, bahne mir meinen Weg durch das Dickicht, ohne recht zu wissen, warum ich nicht diesmal einfach geblieben bin. You can still stay, es ist immer möglich zu bleiben. Doch wie ferngesteuert wird die Option ausgeknockt, das Heimweh nach einem fernen Ort ruft, beherrscht das Bewusstsein, übernimmt die Kontrolle und gibt der Vernunft die Führung. So setze ich wieder tapfer Fuß vor Fuß bis zum Steg, warte auf die Ankunft des Schiffes und werde mir erst auf dem Weg bergab bewusst, was ich hinter mir lasse. Wie habe ich es auf ein Neues geschafft, mir ein Zuhause aus dem Erdboden zu stampfen? Mich hier wohlzufühlen? Sprühend vor Energie das Beste daraus zu machen? Wo nehme ich die Kraft, immer wieder neu anzufangen und mich wieder so herrlich zu verrennen, ohne dem von Anfang absehbaren Ende auch nur die kleinste Chance zu geben, mich aufzuhalten, mich zu binden, zuhause zu fühlen, mich abermals in ein fremdes Land und seine Menschen zu verlieben? Letztlich ist es genial, wie die Wunden heilen und das Herz mir verzeiht, wenn ich mich wieder ein wenig zu stark gebunden habe.

Ich springe, klatsche mit dem Kopf in eiskaltes Wasser, das mir die Luft raubt, das mich strampeln lässt, das mich wütend macht und mich verwirrt. So unglaublich wirft es mich durcheinander, das wohl genau dadurch der Cut entsteht, den ich brauche. Den ich brauche, um abschließen zu können, um hinter mir zu lassen, was ich mitnehmen sollte. Um abermals neu anfangen zu können, diesmal zum Festland zu gelangen, dort mein altes Leben wieder aufzunehmen, die Rolle weiterzuspielen, die sich ungewollt kreiert hat. Mein altes Zimmer wieder zu beziehen, meine Kisten auszupacken, in die ich seit 14 Monaten keinen Blick geworfen habe. Mein Studium für zwei letzte Semester wiederaufzunehmen und tapfer in die Uni statt ans Meer zu gehen. Dabei nicht verbittern, nicht in zu hohen Lüften schweben, nicht von der Realität überrannt werden. Auch dabei wacker einrichten, ausstatten, aufbauen, schön machen. Mit mehrfach geknackstem Herzen trotzdem neue Kraft schöpfen und gerade deshalb auch das wertschätzen, was zuvor nicht des Wertschätzens würdig empfunden wurde. Die Dusche aufzudrehen, den augenblicklich heißen Strahl optimal zu regulieren. Den Kühlschrank aufzumachen, daraus Butter auf frischgebackenes Brot zu schmieren. Die Federdecke zu spüren, die warm macht, obwohl sie keine schwere Last bis in die Träume bringt. Die Liebsten wieder um mich herum zu haben, die mich begleitet haben, die mich unterstützt haben, die bei mir waren wie Sterne, auf die ich immer zählen konnte, egal wie absurd und unverständlich einige meiner Wege sein mochten. Ruhe zu haben, alles verarbeiten zu können, was sich geballt und ohne Aufenthalt ereignet hat. Zu meiner Basis zurückzufinden, die Speicher aufzufüllen, das Lot zu finden und wieder bei mir anzukommen. Und letztlich neue Träume zu träumen, neue Wege auszuloten, neue Abenteuer zu planen.

Ich gehe bis zum Rande gefüllt nach Hause zurück mit mehr als ich tragen kann, mit mehr als ich mir jemals erhofft hätte. Ein Jahr so voll wie ein Leben mit Liebe, Lachen und Lust, mit Freude, Frieden und Freiheit, mit Wissen, Willen und Weisheit. Mit so viel Sonne, die in viele graue Tage Licht bringen wird. Mit Wertschätzung für das, was mir in die Wiege gelegt wurde und mit Gelassenheit über das, was ich daraus machen kann. Und mit vielen Geschichten, die ich gerne teilen und weitertragen möchte. Ja, es war ein gigantisches Jahr, wohl einzigartig in all seiner Besonderheit und seiner Fülle. Doch nun bin ich bereit, freue mich auf den Neuanfang im Alten und bin gespannt darauf, mich darin ein weiteres Mal neu zu entdecken.

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