Seit ich mein Auslandssemester in Madrid sowie die dort begonnenen Freundschaften virtuell fortführen muss, haben meine Diskussionen mit einem italienischen Kommilitonen ein besonderes politisches Thema beständig begleitet: Zeigt die fehlende europäische Solidarität in der Pandemie, dass das Projekt der EU immer mehr Schein als Sein war? Und wenn nicht, hat Deutschland dann die moralische Pflicht, taumelnde Staaten zu unterstützen, obwohl auch national COVID-19 die Menschen bedroht?

Deutschland wehrte sich jahrelang gegen gemeinsame Schulden innerhalb der EU. Auch als Reaktion auf die gegenwärtige Pandemie befürwortete man ausschließlich Kredite. Das änderte sich mit dem deutsch-französischen Vorschlag eines europäischen Wiederaufbaufonds von 500 Milliarden Euro.

Mittlerweile wurde der Vorschlag bereits von einer neuen Initiative der EU-Kommission überholt, der sich aber in den wichtigsten Punkten überschneidet.

Um zu verstehen, was den deutschen Meinungsumschwung getrieben hat, möchte ich kurz auf die Kernpunkte der Kommissionsinitiative eingehen:

Die Summe von nun 750 Milliarden Euro soll aus dem EU-Haushalt kommen und 500 Milliarden in nicht zurückzahlbaren Zuschüssen sowie 250 Milliarden Euro in Krediten beinhalten. Diese Summe ist zwar höher dotiert als der deutsch-französische Vorschlag, liegt aber immer noch deutlich unter den geforderten Geldern von Italien oder Spanien. Eigentlich darf die EU jedoch r sehr begrenzt und in Ausnahmesituationen Schulden aufnehmen – momentan mit einer Obergrenze von 1% der Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten. Im Rahmen der Covid-19 Krise ist aber abzusehen, dass diese 1% nicht ausreichen werden, daher will die Kommission eine Anhebung auf 2% durchsetzen. Mit diesen 2% soll der Wiederaufbaufonds finanziert und langfristig zwischen 2028 und 2058 abbezahlt werden. Die 750 Milliarden sollen vor allem den Ländern zukommen, die von der Pandemie am stärksten betroffen sind (s. Abb.1). Allerdings soll ein Teil auch besonders strukturschwachen Regionen zufließen, die hauptsächlich in Osteuropa zu finden sind.

Da das EU-Budget wesentlich aus den Mitgliedsbeiträgen (diese sind von der Wirtschaftsstärke abhängig) finanziert wird, argumentieren allen voran die „Sparsamen Vier“ (Dänemark, Niederlande, Österreich & Schweden), dass trotzdem die Mitgliedsstaaten und nicht die EU diese Summen stemmen. Der Plan der Kommission dagegen lautet, die 750 Milliarden aus neuen Eigenmitteln durch u.a. Digitalsteuer, einer CO2-Grenzabgabe, einer Plastikabgabe oder durch die Ausweitung des Emissionshandelssystems auf den Schiffs- und Flugverkehr zu sammeln.

Dem wird zurecht entgegnet, dass eine nötige Einigung aller nationalen Parlamente und Regierungschefs dieser Planungen nicht in naher Zukunft stattfinden wird und diese Zahlungsart daher keineswegs sicher ist. Darüber hinaus ist immer noch umstritten, ob die Fonds die gewünschte Wirkung haben würden.

Auch Deutschland war lange Teil der sparsamen Länder und kritisch gegenüber Wiederaufbaufonds. Woher rührt diese Kurskorrektur in der deutschen Politik?

1. Deutschland wird stärker aus dieser Krise herauskommen als andere Länder.

Die EU-Kommission hat kürzlich ausgerechnet, dass Deutschland alleine so viele nationale Wirtschaftshilfen auf den Weg bringen kann, wie die restlichen EU-Mitgliedsstaaten. Zusammen. Diese Entwicklung wird eine Übermacht Deutschlands in der EU zementieren, was Deutschlands Image verschlechtern und dem europäischen Gedanken widersprechen würde. Emmanuel Macron bezeichnete diesen Zustand vor kurzem als Wettbewerbsverzerrung. Deutschland profitiert von einer starken, kooperativen EU. Sollten die Mitglieder das Gefühl bekommen, dominiert zu werden, wird es die EU nicht mehr lange geben.

2. Die deutsche Wirtschaft fordert europäische Wiederaufbaufonds.

Beispielsweise hat sich der Autobauer Porsche kürzlich für mehr europäische Solidarität und sogar Covid-19-Bonds ausgesprochen. Ob in dieser Forderung auch Mitgefühl für die schlimmer betroffenen Gebiete mitspielt, sei dahingestellt. Zweifellos ist allerdings, dass gerade die deutsche Privatwirtschaft von liquiden Mitgliedsstaaten abhängig ist.

3. Die deutsche Bevölkerung unterstützt Krisenhilfen.

Nach aktuellen Studien spricht sich etwas mehr als die Hälfte der Deutschen für Finanzhilfen aus. Etwa 15% der Befragten sind unentschieden, das restliche Drittel findet diese Maßnahmen „eher“ oder „eindeutig falsch“.

Allerdings ist zu beobachten, dass diese Meinungen stark an Parteigrenzen verlaufen.

 

 

 4. Rechte Parteien werden von der Krise profitieren.

Während Krisen wächst die Regierungszustimmung in der Bevölkerung, das können wir auch in Deutschland beobachten. Was aber passiert nach Krisen?

Eine 2018 durchgeführte Studie hat über 800 Wahlen im Zusammenhang mit 100 Krisen analysiert und festgestellt, dass in der Regel rechte Parteien nach Krisen erstarken. Um das Projekt EU zu retten, muss auch das möglichst verhindert werden.

Zum einen sehen Menschen durch Finanzhilfen die Vorteile der EU, zum anderen können die Nachwirkungen der Pandemie abgeschwächt und so der Zulauf zu rechten Parteien zumindest reduziert werden.

5. Marshall-Plan statt Versailler Vertrag

Die Gefahr des Aufstiegs von Populisten sieht auch Emmanuel Macron. Er glaubt einen Hauptgrund für den zweiten Weltkrieg darin zu sehen, dass der Versailler Vertrag dem Nationalsozialismus den Weg bereitet hat. Auch daher dürfe man nun Italien, Spanien aber auch Frankreich nicht für die hohen Schulden bestrafen. Kontrastierend sollte sich Europa ein Beispiel am Marshall-Plan nehmen. Ähnlich wie damals Europa von den Amerikanern politisch und wirtschaftlich stabilisiert wurde, sollte Europa nun die krisengebeutelten Staaten unterstützen.

Für Deutschland könnte außerdem eine Rolle spielen, dass durch die Finanzhilfen eine Einflussnahme auf nationale Wirtschaften im deutschen Sinne möglich wird.

6. Die EU muss sich langfristig kompetitiv ausrichten.

In Zeiten einer Weltordnung, die von großen Staaten wie den USA oder China angeführt wird, ist selbst Deutschland zu klein, um am selben Tisch zu sitzen. Genauso geht es auch allen anderen Mitgliedsstaaten. Wollen all diese Nationen globale Entscheidungen beeinflussen und treffen, muss die EU enger zusammenarbeiten. Spricht sie mit einer kollektiven Stimme, werden Ressourcen gebündelt, kann man mit China und den USA technologisch als auch wirtschaftlich mithalten. Daher sollte es im Interesse jedes Landes sein, die Entwicklung der EU fortzusetzen.

7. Die EU ist ohne Solidarität unter Mitgliedern nicht ernst zu nehmen.

Ob Menschlichkeit bei den Entscheidungen von Angela Merkel und Emmanuel Macron eine Rolle gespielt hat, bleibt eine offene Frage. Die Solidarität jedenfalls ist in den Zielen der EU festgehalten. In Italien hat sich die langsame Reaktion Deutschlands schnell bemerkbar gemacht. Will man die Zusammenarbeit der EU intensivieren, können die Mitglieder in ihren Aufgaben und Pflichten kein „cherry picking“ betreiben.

Fazit

Viele Aspekte sind noch ungeklärt und ob tatsächlich alle Mitgliedsstaaten mitziehen ist keineswegs sicher. Ein essentielles Problem bleibt, inwiefern die Gelder an Bedingungen geknüpft werden. Ziel der Regulationen müsste es sein, Technologie, Bildung und Forschung zu fördern, um die Wirtschaft langfristig zu stärken.

Leider muss außerdem festgehalten werden, dass dieser Vorschlag keinen großen Schritt Richtung der „Vereinigten Staaten von Europa“ darstellt. Die harten Verhandlungen um ein Prozent der Wirtschaftskraft zeigen, dass die Mitgliedsstaaten davon noch weit entfernt sind.

Dennoch galten gemeinsame Schulden und Zuschüsse lange als Tabus. Und wenn alle wirtschaftlichen wie ethischen Vorzüge der Wiederaufbaufonds einen Sinneswandel herbeigeführt haben, warum dann nicht perspektivisch auch bei Diskussionen zu weiteren Annäherungen innerhalb der EU?

Es scheint also so, als würde dieses Thema auch in den kommenden Monaten noch die Gespräche mit meinem italienischen Freund zieren. Ich persönlich fühle mich aber deutlich wohler, wenn ich mittlerweile die deutsche Position erkläre.

Autor: Janek Tiemann

*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Stars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.

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