Es ist der 20. März 2020, ich befinde mich in meinem Zimmer bei meiner jordanischen Gastfamilie. Dann klopft es plötzlich an der Tür und meine Gastschwester fragt: „Brauchst du noch etwas? Ab morgen werden alle Läden und Supermärkte geschlossen.“ Wir fahren also einkaufen, ich sehe bewaffnete Militärfahrzeuge durch die Straßen fahren und zuhause frieren wir erst einmal einen großen Vorrat an Brot ein. 

Das war der Moment während meines Auslandssemesters in Jordanien, an dem ich persönlich in der Pandemie angekommen bin.

Abbildung 1: Steckbrief Jordanien; Quelle: eigene Tabelle, basierend auf Auswärtiges Amt (2020), Deutsche Botschaft Amman (2020), Lexas (2020)

Die striktesten Maßnahmen weltweit?

Einige Medienberichte bezeichneten das Vorgehen der jordanischen Regierung als eines der striktesten weltweit. Im Vergleich zu den Maßnahmen in Deutschland kamen auch mir die Corona-Maßnahmen sehr streng vor. Am 02.03.2020 gab es den ersten offiziellen Covid-19 Fall in Jordanien. Bereits am 15.03.2020 wurden alle Universitäten und Schulen geschlossen. Am 17.03.2020 folgte die Schließung der Flughäfen auf unbestimmte Zeit. Beginnend vom 20.03.2020 gab es für einige Tage einen kompletten Lockdown. Das heißt, dass sogar alle Supermärkte und Bäckereien geschlossen wurden und bei dem Verlassen der eigenen Wohnung eine Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr drohte. Auch nach einer zeitlichen Lockerung der Ausgangssperre blieben die hohen Strafen bestehen. Als Folge wurden beispielsweise allein am 23.04.2020 aufgrund von Verstößen gegen die bestehende Ausgangssperre 653 Personen festgenommen und 231 Fahrzeuge konfisziert.

Vergleicht man die Corona-Maßnahmen in Jordanien mit denen anderer Länder ist durchaus nachvollziehbar, dass diese zu den striktesten Auflagen weltweit gezählt werden. Die individuelle Freiheit wurde massiv eingeschränkt – so durfte man anfangs nicht einmal für einen Spaziergang die eigenen vier Wände verlassen oder den Müll außerhalb des Hauses entsorgen. Neben der immensen Einschränkung der Bewegungsfreiheit wurde ebenso eine öffentliche Debatte zu den implementierten Maßnahmen klein gehalten. Beispielsweise wurden am 09.04.2020 der Generaldirektor und der Nachrichtenchef des jordanischen Fernseh- und Nachrichtensenders Roya TV festgenommen, nachdem sie sich medial kritisch gegenüber den Regierungsentscheidungen bezüglich der Covid-19 Situation geäußert hatten. Es zeigt sich somit, dass nicht nur die Bewegungsfreiheit, sondern in ähnlichem Umfang das Recht auf Meinungsäußerung im Rahmen der Covid-19 Maßnahmen massiv eingeschränkt bzw. unterbunden wurde.

Strikte Maßnahmen aus gutem Grund?

Dennoch scheinen die Maßnahmen aus verschiedenen Gründen nachvollziehbar. Zum einen ist Jordanien durch eine hohe Zentralisierung charakterisiert. So lebt mit circa 4 Millionen Einwohnern knapp die Hälfte der jordanischen Bevölkerung in der Hauptstadt Amman. Eine rasante Ausbreitung von Covid-19 Infektionen wäre somit sehr schwer zu kontrollieren. Verstärkt wird das durch die Tatsache, dass große Zusammenkünfte und Treffen in der jordanischen Kultur an der Tagesordnung stehen. Insbesondere durch den Fastenmonat Ramadan im April und Mai, in dem sich täglich große Gruppen zum gemeinsamen Fastenbrechen treffen, wäre ohne Ausgangsbeschränkungen ein unüberblickbarer Multiplikator für Covid-19 Infektionen kreiert worden. Dieser Effekt hatte sich bereits im März kurz vor dem Lockdown gezeigt. Bei einer – nun allseits bekannten – Hochzeit in Irbid Anfang März 2020 wurden 85 Personen mit Covid-19 infiziert. Zuvor hatte es in Jordanien nur einen einzigen Covid-19 Fall gegeben. Nach aktuellem Stand gilt diese Hochzeit damit als Auslöser für die Covid-19 Pandemie in Jordanien.

Zwar waren die Maßnahmen insbesondere anfänglich sehr streng. In Anlehnung an die Entwicklung der Infektionszahlen wurden diese allerdings immer weiter gelockert. Als Orientierung wurde ein fünf Phasenplan durch das jordanische Gesundheitsministerium entwickelt. Nach jetzigem Stand (12.07.2020) befindet sich Jordanien bereits in der Phase moderate risk level und damit bereits in der Vorstufe zur letzten Phase, die als low risk – new normal bezeichnet wird. Von einem moderate risk level ist laut dem jordanischen Gesundheitsministerium die Rede, wenn es innerhalb der letzten sieben Tage landesweit täglich nicht mehr als zehn Neuinfektionen gibt. Dementsprechend sind die Maßnahmen gelockert und bis auf das Tragen von Masken in den Supermärkten und der Tatsache, dass der reguläre internationale Flugverkehr nach wie vor ausgesetzt ist, ist bei der jordanischen Bevölkerung weitestgehend Normalität eingekehrt. Dennoch gilt weiterhin eine Ausgangssperre – jedoch lediglich von 24:00 Uhr bis 6:00 Uhr. Auch die Mobilität innerhalb des Landes ist wieder vollkommen hergestellt, die Außengrenzen und Flughäfen sind allerdings nach wie vor geschlossen. Ausgenommen von den Lockerungen sind des Weiteren unter anderem Kindergärten, Schulen, Kinos und die Veranstaltung von Hochzeiten. Die Entwicklungen der Covid-19 Maßnahmen spiegeln sich auch im Straßenbild wider, wie man auf den folgenden Fotos erkennen kann.

Abbildung 2: Straßenbild vom 20.02.2020, 30.03.2020 und 11.06.2020; Quelle: eigene Aufnahmen

Wirksamkeit hinsichtlich der Pandemie-Entwicklung?

In Anbetracht der vergleichsweisen strikten Maßnahmen stellt sich jedoch eine zentrale Frage: Waren all die Entbehrungen und Einschränkungen der individuellen Freiheiten zumindest gesundheitlich lohnenswert? Betrachtet man die Zahlen, kann diese Frage mit einem klaren „Ja“ beantwortet werden. Insgesamt gibt es insgesamt lediglich 1.176 registrierte Covid-19 Fälle (Stand: 11.07.2020).

Abbildung 3: Entwicklung der Covid-19 Infektionen in Jordanien; Quelle:  Jordan Ministry of Health (2020a)

Vergleicht man diese Zahlen mit Bayern, das in etwa die gleiche Einwohnerzahl und Fläche wie Jordanien aufweist, hat Bayern mit 49.175 Covid-19 Fällen (Stand: 11.07.2020) fast zweiundvierzigmal so hohe Fallzahlen wie Jordanien. Stellt man die Todeszahlen gegenüber, wird der Unterschied noch deutlicher. Mit 2.609 Todesfällen hat Bayern zweihundertsechzigmal mehr Todesopfer als Jordanien mit 10 Todesfällen zu beklagen.

Es kann zwar nicht empirisch überprüft werden, wie sich die Covid-19 Fallzahlen in Jordanien mit weniger strikten Maßnahmen entwickelt hätten. Doch berücksichtigt man Faktoren wie den hohen Zentralisierungsgrad und die kulturelle Verankerung größerer „social gatherings“ scheint es wahrscheinlich, dass die Fallzahlen ohne das strikte Vorgehen der jordanischen Regierung wohl höher wären.

Und jetzt?

Versucht man ein Fazit zu ziehen, ob Freiheiten massiv eingeschränkt wurden, um die Gesundheit der jordanischen Bevölkerung zu schützen, lässt sich diese Frage bejahen. Es ist allerdings zu bedenken, dass sich die Covid-19 Fallzahlen ohne diese Einschränkungen wohl anders entwickelt hätten.  Zudem konnte die jordanische Bevölkerung durch das schnelle und strikte Reagieren der Regierung verhältnismäßig schnell wieder zu einem mehr oder weniger normalen Leben zurückkehren. In Ländern mit weniger strengen Auflagen und langsamerer Reaktionszeit hingegen wurden zwar die persönlichen Freiheiten nicht im gleichen Ausmaß eingeschränkt, auf lange Sicht jedoch werden die Menschen dort länger einen Teil ihrer Freiheit entbehren müssen, als dies in Jordanien der Fall ist.

Dennoch wird die jordanische Regierung im Zuge der Corona-Pandemie noch weitere Dilemmata abwägen müssen. Zur Wahrung der stabilen Covid-19 Situation in Jordanien hält die Regierung nach wie vor daran fest, das Land mittels Grenzschließungen nach außen fast vollständig abzuriegeln. Zwar hatte das für mich den Vorteil, dass ich pünktlich zu Semesterende im Juni das Land, das ich drei Monate lang fast ausschließlich durch mein Zimmerfenster betrachten durfte, entdecken konnte und dabei eine der wenigen Tourist*innen war. Durch den Kurs der Abschottung zeichnet sich bereits jetzt eine weitere Grundsatzdebatte ab: Gesundheit vs. Wirtschaft.  Dies wird deutlich, wenn man beispielsweise bedenkt, dass allein der Tourismus, der einen zentralen Wirtschaftssektor Jordaniens darstellt, im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr bereits innerhalb der ersten vier Monate knapp 37 Prozent an Umsatz einbüßen musste. Verstärkt wird dies unter anderem dadurch, dass Jordanien bereits vor Beginn der Covid-19 Pandemie eine Jugendarbeitslosigkeitsquote von 35 Prozent aufgewiesen hat. Es bleibt also abzuwarten, wie die jordanische Regierung nun gedenkt, dieses Dilemma zu lösen.

Autorin: Viktoria Achhammer

*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.

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