Teil 4 meiner „Zeitreise“ Nach Korea: Enter Pyongyang.

Man hört und liest oft, dass man eigentlich sehr wenig darüber weiß, was in Nordkorea vor sich geht. Tatsächlich hat man vor allem von Geflohenen viel über die Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lernen können. Als ich in Seoul zur Uni ging habe ich den Kurs „Politics, Society, Culture of North Korea“ belegt, in genau diese Themen angesprochen wurden. Das Ergebnis des Kurses war, dass typische Vorurteile wie konstanter Hunger oder komplette Isolierung von der Außenwelt etwas aufgeweicht wurden, dafür aber viel dunklere Seiten des repressives Staates bekannt wurden.

Zunächst muss man verstehen, dass das Leben in Nordkorea grundsätzlich unfair ist. Die Hauptstadt Pjöngjang mit etwa 3,3 Millionen Einwohnern ist das Vorzeigeobjekt für die Außenwelt. In der Stadt lebt die winzige Elite des Landes, die Zugang zu vielen modernen Konsum- und Luxusgütern des 21. Jahrhunderts haben – Internet, Privatauto, Reisepass. Der Rest des Landes hingegen lebt (wenn überhaupt) knapp über der Armutsgrenze – und das, obwohl die Bewohner von ihrem sozialistischen Staat eigentlich in verschiedenen Lebensbereichen unterstützt werden: Wohnungen werden gestellt, sowie (rationierte) Grundnahrungsmittel wie Reis. Es gibt ein staatliches Rentensystem, 150 Tage bezahlten Mutterschaftsurlaub, zwei Wochen Urlaub plus Feiertage und kostenlose Bildung (in diesen Aspekten ähnelt Nordkorea manchen europäischen Ländern und ist Ländern wie den USA sogar voraus). Dennoch sind Armut und Hunger weit verbreitet.

Und trotzdem verfechtet die nordkoreanische Propagandamaschine weiterhin das Bild eines Schlaraffenlands, in dem es der Bevölkerung besser gehen soll als dem durchschnittlichen Amerikaner oder Südkoreaner. Propagandaspots im Fernsehen zeigen prall gefüllte Schaufenster und Ladenregale – was nicht erwähnt wird, ist das alles eigentlich nur Kulisse ist und die Waren gar nicht gekauft werden können. Das Leitmotiv: Nordkorea ist das tollste Land der Welt.

Pjöngjang ist eine relativ moderne Stadt und liegt am Taedong Fluss. (Foto von Flickr)

Diese Arten von Propaganda sind ein integraler Teil des Bestrebens der Regierung, die Bevölkerung zu kontrollieren und emotional zu unterdrücken. So laufen beispielsweise an öffentlichen Plätzen über Monate hinweg auf Endlosschleife die gleichen Reden Kin Jong-uns. Dieser ist seit dem Tod seines Vaters Kin Jong-il 2011 der dritte Herrscher der absolutistischen Kim-Dynastie. Nach dem Machtübergang hatte die freie Welt gehofft, dass er junger und in der Schweiz ausgebildete Mann die Herrschaft etwas lockern würde – weit verfehlt. Stattdessen stürzt er potentielle politische Oppositionelle – wie zum Beispiel seinen Onkel – und lässt sie hinrichten.

Der Staat verfügt über ein umfangreiches und alle Aspekte des öffentlichen Lebens überdeckende Überwachungssystem mit Geheimpolizei, obligatorischen Vereinsmitgliedschaften und Vollstrecker auf lokaler Ebene. Die kleinste Einheit dieses Überwachungssystems ist die Inminban (인민반 = people’s group), bestehend aus zwischen 20 und 40 Familien, die von einer Gruppenleiterin kontrolliert werden. Regelmäßige angekündigte und unangekündigte Hausbesuche sollen dafür sorgen, dass Familien in ihren Heimen keine illegalen Medien wie südkoreanische Musik oder Filme spielen, oder dass keine nicht registrierten Besucher anwesend sind (für Nordkoreaner gilt generelles Reiseverbot, auch innerhalb des Landes. Für Besuche von Familienmitgliedern in anderen Städten muss eine Reiseerlaubnis erteilt werden, die den genauen Reiseverlauf sowie den Tag der Ankunft und Rückkehr festlegt). Diese Inminban Leiterinnen werden wiederrum von der örtlichen Polizei kontrolliert.

Die Regierung – bzw. die regierende Partei der Arbeit Koreas – verlangt von der Bevölkerung absolutes Gehorsam und Loyalität. Selbst kleinste Fehler und Abweichungen von der offiziellen Meinung der Partei werden hart bestraft. Ob dies aus Versehen oder mit Abschied geschehen ist, spielt dabei keine Rolle.

Die Regierung betont die Mitgliedschaft in Vereinen in allen Lebensstufen, beispielsweise im Sozialistischen Jugendverband, dem Frauenverband oder auch der Partei selbst. Innerhalb dieser Verbände trifft man sich mehrmals in der Woche für einige Stunden, um sich vor allem über die Staatsideologie auszutauschen – aber auch für sogenannte „Weekly Life Review Sessions“ bzw. „Self Criticism and Mutual-Criticism Sessions“, in denen man den momentanen Stand seines Lebens reflektiert und eventuelle Schwächen oder Fehler eingesteht und zugibt, oder die Fehler anderer offenbart und kritisiert. So soll gewährleistet werden, dass jeder zu jedem möglichen Zeitpunkt kontrolliert wird.

Für diejenigen von euch, die schon George Orwells Roman „1984“ gelesen haben, dürften so langsam Ähnlichkeiten zu dessen Inhalt sichtbar werden – es wird allerdings noch ähnlicher. Auch in Häusern und Wohnungen findet man Radios, die nicht ausgeschaltet werden können, sondern den ganzen Tag ähnlich wie die Lautsprecher auf öffentlichen Plätzen Propagandaparolen von sich geben. Außerdem ist es verboten, Zeitungen zu besitzen, die älter sind als 10-15 Jahre – um zu vermeiden, dass Änderungen der Politik oder ehemalige Wirtschaftskrisen und damit verbundene Hungersnöte nicht konkret im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung bleiben (Orwell geht natürlich noch einen Schritt weiter und beschreibt in seinem Roman ein Ministerium, das nur damit beschäftigt ist, alte Zeitungen zu bearbeiten und neu zu veröffentlichen, um Kursänderungen der Parteiführung zu kaschieren – aber wir schweifen ab).

Außerdem sind Mitglieder der nordkoreanische Gesellschaft durch ein Kastensystem (Songbun / 성분) kategorisiert. Politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hintergrund der Vorfahren, sowie das Verhalten von Familienmitgliedern und Verwandten beeinflussen, in welcher Kaste man sich befindet. Unterschieden wird zwischen drei Gruppen: Regierungstreue Anhänger der Partei, regierungsfeindliche Gegner (Menschen mit Grundherren als Vorfahren, Geistliche, Beamte während der japanischen Kolonialisierung), und alle dazwischen. Das Kastensystem wird quasi überall im Alltag angewendet: Bei der Vergabe von Arbeitsplätzen und Essensrationen, der Möglichkeit auf Bildung und Aufstieg sowie sozialer Unterstützung vonseiten der Regierung.

Oppositionelle und politische Aktivisten, aber auch die allgemeine Bevölkerung kann durch kleinste Straftaten in einem der vielen Arbeitslager des Landes landen, in denen Menschen unabhängig von Alter oder Geschlecht gefoltert werden und oft sterben. Die „Besonderheit“ der Arbeitslager ist die Tatsache, dass sich die Strafe bei besonders schweren Verbrechen (im Auge er Regierung) auf drei Generationen der Familie auswirken. So passiert es, dass Menschen in einem Lager geboren werden und dort sterben. Menschen, denen eine Flucht gelungen ist, erzählen von unglaublich brutalen Foltermethoden und Umgang mit den Insassen – die der Meinung sind, sie würden ein normales Leben führen, weil sie es seit der Geburt nicht anders kennen.

Dies soll allerdings nicht bedeuten, dass Nordkoreaner alle in jeder Hinsicht Opfer von Gehirnwäsche sind und uneingeschränkt Befehlen ihrer Obrigkeit folgen. Geflohene, die den Süden erreicht haben, erzählen, dass Bürger nicht davor zurückschrecken, Polizisten die Stirn zu bieten, wenn sie der Meinung sind, dass eine (unpolitische!) Vorschrift irrational ist – beispielsweise die ehemalige Vorschrift, die Frauen untersagte, Hosen zu tragen. So haben viele individuelle Proteste dafür gesorgt, dass diese Vorschrift inzwischen aufgehoben worden ist.

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Viel Architektur im Stil des klassizistischen Stalinismus am Kim Il-sung Platz in Pjöngyang, direkt am Taedong Fluss (Foto von Wikipedia)

Für Flüchtlinge führt der einzige Fluchtweg nach China. Mit Glück kann man Grenzkontrolleure bestechen, ansonsten muss man nachts versuchen, durch den breiten Yalu Fluss oder Tumen Fluss zu schwimmen. In China selbst werden Flüchtlinge in vielen Fällen nicht gerade herzlich empfangen, sondern von chinesischen Polizisten zurück nach Nordkorea geführt, wofür sie bezahlt werden. Erst nach dem Erreichen einer südkoreanischen Auslandsvertretung kann der Asylprozess begonnen werden. Früher war es noch für die meisten Geflohenen möglich, Asyl gewährt zu bekommen. In letzter Zeit aber filtert die südkoreanische Regierung allerdings zunehmend aus und lässt vor allem hochrangige Flüchtlinge, wie wichtige Parteimitglieder oder Diplomaten, zu sich ins Land. Die Argumentation wird Deutschen bekannt vorkommen: „Flüchtlinge sind zu teuer“, „Flüchtlinge lassen sich schwer integrieren“, sogar „Flüchtlinge nehmen uns Studien- und Arbeitsplätze weg“.

Für akzeptierte Flüchtlinge (bis 2013 ca. 26.000) beginnt eine lange Integrationsphase in speziellen Einrichtungen, sogenannten Hanawons (하나원, „Haus der Einheit“). Zwölf Wochen lang werde Flüchtlinge auf die Integration in die südkoreanische Gesellschaft vorbereitet, viel muss neu gelernt werden: die Geschichte der koreanischen Halbinsel (die in Nordkorea propagandistisch inszeniert beigebracht wird – beispielsweise, dass der Süden den Koreakrieg begonnen hätte), politische Grundbildung, Heranführung an den Arbeitsmarkt. Auch Koreanisch muss in gewisser Weise neu gelernt werden: Durch die vielen Einflüsse, vor allem aus den USA und Europa, hat sich das Koreanisch des Südens in den letzten 70 Jahren sehr verändert, vor allem durch Anglizismen (und auch Germanismen: Teilzeit arbeiten bedeutet zum Beispiel „아르바이트를 하다“ [areubaiteu reul hada], vom deutschen Wort „Arbeit“).

Allerdings werden Flüchtlinge aus Nordkorea in diesen Umerziehungslagern auch intensiv durch Hintergrundtests auf potentielle Spionageaktivitäten oder Verbindungen zur nordkoreanischen Regierung geprüft. Schließlich werden sie mit einem Startgeld von ca. 14500€ versorgt, um ihnen den Einstieg in die Gesellschaft zu erleichtern. Am Ende gibt der Südkoreanische Staat fast 16.000€ pro Flüchtling aus – trotzdem gelingt eine erfolgreiche Integration nicht immer.

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„Bereitet euch auf die Wiedervereinigung vor!“ – Werbeplakat meiner Uni an einer Ubahnstation in Seoul

Vollständige Isolierung von der Außenwelt ist eines der Vorurteile, die man von Nordkorea hat. Tatsächlich weiß man mittlerweile von Geflohenen aus dem Norden, dass schätzungsweise die Hälfte bis Dreiviertel aller Nordkoreaner schon mal Filme aus dem Ausland geschaut haben – vor allem aus Südkorea – und deswegen eine ungefähre Ahnung haben, wie es dort aussieht. Einige Übergelaufene aus dem Norden fliehen aus dem Land, nur um mit Schmuggelware wie Laptops, DVDs, Radios und USB-Sticks voller Filmen und Musik wieder einzureisen. Schätzungsweise hören bis zu einer Million Nordkoreaner regelmäßig ausländisches Radio und erfahren so auch etwas über die Außenwelt.

In Südkorea hat man hingegen ein neues Format entdeckt, um die Bewohner von sowohl Süd- als auch Nordkorea über den Alltag in beiden Ländern zu informieren. Die Fernsehshow „On My Way to Meet You“ (이제 만나러 갑니다) präsentiert in einem aufgelockerten Format 14 sogennante „defector beauties“ („übergelaufene Schönheiten“), die persönliche Geschichten und Erlebnisse von ihrem Alltag in Nordkorea sowie ihrer Flucht erzählen. Die Fernsehshow ist teils Talkshow, teils Schönheitswettbewerb, und kann von einem Moment auf den anderen von heiterem Gelächter zu Tränenausbrüchen führen. Die Show bietet außerdem eine Plattform für Geflohene, die nach Familienmitgliedern suchen, von denen sie im Norden oder während ihrer Flucht getrennt worden sind. Nicht ohne Grund ist „On My Way to Meet You“ eine der beliebtesten Shows, die nach Nordkorea geschmuggelt werden.

Die „defector beauties“ aus „On My Way to Meet You“ (Foto von Korea Joongang Daily)

Die vielen erfolgreichen Fluchten in der Vergangenheit sowie die Verbreitung von Medien aus dem Ausland sind von der Regierung in Pjöngjang als Gefahr erkannt worden, weshalb sich die Anzahl der Flüchtlinge seit der Machtübernahme von Kim Jong-un halbiert hat. Wie sieht es also mit der Zukunft Nordkoreas aus? Hochrangige Geflohene erzählen, das der gottesähnliche Status seines Vaters und Großvaters für den jungen Herrscher des Landes nicht mehr selbstverständlich ist. Sie sprechen von Streit und Fraktionsbiödung in den höchsten Rängen der Partei. Sogar Mitglieder der Elite in Pjöngjang fangen wohl an die Langfristigkeit des Regimes in Frage zu stellen.

Dennoch ist eine unmittelbare Veränderung des Status quo unrealistisch. Nach wie vor provoziert die nordkoreanische Regierung den Süden und den Rest der Welt mit Gewaltdrohung und Atomwaffentests. Dennoch scheint es, als würde es in der kollektiven Mentalität der Bevölkerung langsam einen Wandel zu geben. Optimistische Experten gehen sogar soweit, in den nächsten fünf Jahren große Veränderungen vorherzusagen. Ob das Regime in Nordkorea allerdings Reformen zulassen wird, um sich langfristig erhalten zu können, oder noch härter gegen verdächtigte Bedrohungen und Feinde vorgeht, wird sich zeigen.

Der Economist hat im Rahmen der Reihe „The World If“ einen Artikel über eine potentielle Entwicklung auf der koreanischen Halbinsel nach dem Zusammenbruch des nordkoreanischen Regimes veröffentlicht – kann ich für alle Interessierten wärmstens empfehlen. Außerdem zum Schluss noch einige wirklich sehr beeindruckende Aufnahmen aus der nordkoreanischen Hauptstadt.

Titelfoto von Vox – The single most important fact for understanding North Korea

2 thoughts on “Steinzeitsozialismus FTW!”

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