Nach Jahren des Reisens in die unterschiedlichsten Ecken der Welt – ob allein mit Rucksack, beim Auslandssemester oder Rotary-Austauschprogramm – überrascht meine Eltern beim Thema Reisepläne eigentlich relativ wenig. Trotzdem herrschte am anderen Ende des Telefonhörers erst mal kurz Stille, als ich meiner Mutter (zugegebenermaßen etwas verlegen) meine Urlaubspläne für diesen Sommer unterbreitete: Iran. Couchsurfing. Ach ja, und das Ganze auch noch allein.

Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass mein Plan mit allzu großer Begeisterung aufgenommen wurde. Iran, das ist Khomeini, Hijabpflicht, Tanzverbot, Nuklearwaffen, Shi’a-Islam als Staatsreligion. Auch die Nachbarländer Irak, Afghanistan und Pakistan (u.a.) haben in unseren Gefilden nicht gerade ein glänzendes Image, besonders was Sicherheit bzw. Terrorismus angeht. Positive Nachrichten, wie beispielsweise die Tatsache, dass der Iran oft als sicherstes Land im Mittleren Osten bezeichnet wird, schaffen es eher selten durch den Filter der westlichen Nachrichtenagenturen. Meiner Meinung nach half also nur: Hinfahren und selber mal anschauen.

Meine erste Berührung mit dem Iran außerhalb der typischen Kurznachrichten im Fernsehen oder der Zeitung war Marjane Satrapis wunderbare autobiographische Graphic Novel Persepolis, welche mir mit 14 während eines Praktikums in der Bibliothek in die Hände fiel. Satrapi, im Iran geboren und zwischen Wien und Tehran aufgewachsen, beschreibt in ihrem Buch ihre Kindheit und Jugend, welche sehr stark von der Iranischen Revolution 1978/79 und deren Folgen beeinflusst wurde. Das Iran-Bild, welches Satrapi in ihrem Comic-Roman zeichnete, wich stark von dem ab, was ich bis dato über den Iran in Erfahrung gebracht hatte – vor allem die Beschreibung des Iran vor der Revolution unter Shah Mohammed Reza Pahlavi, welcher stets einen “westlichen” Kurs (Stärkung der Frauenrechte, Alphabetisierungskampagnen, gemeinsame Erziehung von Mädchen und Jungen, weniger Macht für religiöse Oberhäupter, etc.) verfolgt hatte. All diese Entwicklungen wurden nach der Gründung der Islamischen Republik Iran im April 1979 zu einem sofortigen Halt gebracht oder gleich rückgängig gemacht, was zum Iran führte, wie wir ihn heute (durch unsere gefilterten Medien) “kennen”: Frauen gelten vor Gericht wenig bis nichts und sind in den meisten Angelegenheiten (von der Erlaubnis, das Haus zu verlassen, über Finanzen bis hin zum Recht auf Scheidung) von Vater oder Ehemann abhängig; auf den Austritt aus dem Islam steht offiziell die Todesstrafe; “westliche” Medien sind verboten, genauso wie jegliche Musik, die fröhlich ist oder zum Tanzen verleitet; junge Erwachsene müssen bis zur Hochzeit bei ihren Eltern wohnen und lernen ihren Partner im Idealfall bei der von den Eltern arrangierten Verlobung kennen; Zugang zu Facebook, Twitter, YouTube, ist blockiert, etc.

Dieser krasse Umbruch innerhalb kürzester Zeit – von einer relativ konservativen Gesellschaft mit einer liberalen Mittel- und Oberschicht zu einer ultrakonservativen und streng religiösen Gesellschaft mit Moralvorstellungen, die denen des katholischen mittelalterlichen Europas entsprechen – war für mich schwer nachvollziehbar und faszinierend. In den Jahren darauf begann ich, mich mehr mit dem Iran zu beschäftigen, wobei zwei Publikationen besonders interessante Einblicke in die heutige zwiegespaltene iranische Gesellschaft boten: Die Iran-Ausgabe des Magazins Internationale Beziehungen sowie Stephan Orths Couchsurfing im Iran, ein vorher nie dagewesener Erfahrungsbericht. Als ich dann nachrechnete, dass ich dieses Jahr zwischen meinen Auslandssemestern in Argentinien und danach in Indien zwei freie Monate haben würde, und entdeckte, dass einem Flüge von Berlin nach Tehran preistechnisch praktisch hinterhergeworfen werden, stand meine Entscheidung endgültig fest – ich würde den September im Iran verbringen. Und was bringt es dem neugierigen Iran-Erstling, das Land zu bereisen, wenn man sich nur historisch und kulturell bedeutsame Artefakte ansieht und der einzige Kontakt zu Einheimischen mit dem Taxifahrer, Ticketverkäufer und Hotelangestellten besteht? Genau – da kann man genau so gut zuhause bleiben. Also würde ich couchsurfen und somit nicht nur sparen, sondern von Anfang an zu hundert Prozent in die iranische Kultur und den Alltag eintauchen. Die Iraner sind weltweit für ihre beispiellose Gastfreundlichkeit bekannt – was sollte also schiefgehen?

Ich recherchierte also und stellte eine ungefähre Reiseroute zusammen – fünf oder sechs Städte in drei Wochen, um genug Zeit für alles zu haben und meine Gastgeber auch richtig kennenlernen zu können. Danach postete ich für jede Stadt einen Public Trip auf couchsurfing.com. Wem das Prinzip nicht bekannt ist: couchsurfing.com ist eine Webseite, auf der Leute ihre Sofas, Gästezimmer, Luftmatratzen oder freien Platz auf dem Boden Gästen aus aller Welt anbieten können – gratis. Damit man auch weiß, woran man mit seinem Host (Gastgeber) oder Gast ist, gibt es ein Referenzen-System, sodass Gäste und Gastgeber sich gegenseitig bewerten und empfehlen (oder im schlimmsten Fall andere warnen) können. Bei einem Public Trip kann man die Details und Daten zu sich und der Reise auf der Webseite veröffentlichen und Gastgeber in der jeweiligen Stadt können einen dann kontaktieren, wenn sie Interesse haben, die Person zu hosten. Für meine sechs Ziele erhielt ich insgesamt über 800 Nachrichten von neugierigen und herzlichen Iranern – natürlich zum (kleinen) Teil, weil ich als Mädchen alleine reisen würde, aber der Großteil der Nachrichten war im Tenor eher “Willkommen im Iran! Ich freue mich so, dass du mein Land kennenlernen möchtest! Bitte lass mich dich beherbergen, damit ich dir alles über unsere Kultur und Gewohnheiten beibringen kann!”. Da die Mehrheit der Iraner zwischen 18 und 30 noch bei der Familie wohnt (ausgezogen werden darf wie oben erwähnt erst nach der Hochzeit), muss man sich auch als Mädchen um die eigene Sicherheit generell keine Sorgen machen – im Gegenteil, ich wurde oft wie ein lange verlorenes Kind, das endlich nach Hause kommt, aufgenommen und sofort in die Familie integriert.

Frisch aus Argentinien zurückgekommen, machte ich mich also im August an die notwendigen Formalitäten – eine stornierbare Buchung für ein Hotel in Tehran vornehmen (braucht man für das Visum – dass Ausländer bei Iranern privat unterkommen, ist nicht gern gesehen), Passfotos ausdrucken, einen nicht allzu ausführlichen Antrag ausfüllen und das Ganze zum Iranischen Konsulat in Berlin bringen – und zwei Wochen später hielt ich meinen Reisepass mit nigelnagelneuem Visumssticker in der Hand. In den Konsulaten in Hamburg oder München soll der ganze Prozess wohl etwas komplizierter ablaufen, also am besten selber mal recherchieren, wenn man aus einem anderen Bundesland kommt. Nach dem ich dann auch noch mein Visum für Indien hatte, wo ich direkt nach meiner Irantour hinfliegen würde, und aus den unzähligen Nachrichten sympathisch wirkenden Gastgeber für jede Stadt ausgewählt hatte, konnte es dann auch endlich losgehen: Nach (unbewusster) jahrelanger mentaler Vorbereitung stand kein Hindernis mehr zwischen mir und der Islamischen Republik Iran!

Im Flugzeug nach Tehran fiel mir als erstes auf, dass von den vielleicht 100 oder 120 anwesenden Frauen maximal zehn bereits vor unserer Ankunft Hijab (Kopftuch) und Manto (eine Jacke, die den weiblichen Körper bis mindestens zur Mitte der Oberschenkel bedecken soll – kann z.B. ein Trenchcoat oder längerer Cardigan sein) trugen. Der Rest holte erst nach dem Touchdown des Flugzeugs mit verbitterter Miene diese “Verhüllungswerkzeuge” aus den Taschen und bedeckten so Haare, Arme, Torso und Hintern – kurz, alles, was den iranischen Mann nach islamischer Auffassung beim Anblick sofort die Kontrolle verlieren lassen würde. Auch mit Tschador (dem langen schwarzen Stoffzelt, was außer dem Gesicht der Frau alles der Fantasie überlässt) wurde sich bedeckt – dieser ist allerdings im moderneren Tehran weniger häufig zu sehen als in ländlichen Gegenden. Alle ausländischen Reisepässe wurden am Einreiseschalter streng und ausführlich kontrolliert. Als ich dann aber einmal in der Eingangshalle des Flughafens stand, dauerte es keine fünf Minuten, bis mich eine Frau ansprach, im Iran willkommenhieß, und mir erzählte, wie wunderbar ihr doch Deutschland und Europa gefallen würden. Dies hat sich im Laufe der letzten drei Wochen oft wiederholt – als Tourist wird man gerne mal einfach angesprochen, willkommengeheißen, nach der Meinung zum Iran gefragt, noch schnell ins Haus der betreffenden Person eingeladen und dann wieder verabschiedet. Die Leute verfolgen kein monetäres oder sonstiges Ziel – sie sind einfach nur neugierig und sich außerdem oft des suboptimalen Images ihres Heimatlandes im Ausland bewusst und sehen diese Konversationen mit Touristen als ihren Beitrag an, dieses Image zu verbessern. Als Reisender in anderen Ländern legt man sich oft eine stoische Maske zu und stellt sich gegen die vielen “Hey, Madam!” und “Hello, my friend!”-Rufe diverser Verkäufer taub; im Iran jedoch sind diese Leute in der absoluten Minderheit der Menschen, von denen man angesprochen wird. Die Iraner bewundern besonders Deutschland und die “fleißigen und arbeitsamen Deutschen” enorm – diese Deutschlandbewunderung äußert sich aber leider auch (selten, aber es kommt vor) dadurch, dass man mit dem Hitlergruß gegrüßt wird und dann erstmal eine Grundsatzdiskussion anfangen muss, da solche Leute der Meinung sind, dass Hitler als großer Staatsmann Deutschland ja enorm weitergebracht hätte. Anstrengend für alle Beteiligten.

Eine andere typisch iranische Eigenschaft, an die man sich als Tourist gewöhnen muss, ist taarof – ein Prinzip, dass man am besten an einem Beispiel erklärt: Als ich anmerkte, dass mir der Manto einer Freundin gefiel, nahm sie ihn ab und meinte “Nimm ihn!”. Das ist natürlich nicht ernst gemeint, aber die iranische Höflichkeit gebot meiner Freundin, mir den Manto anzubieten (genau so wie taarof mir gebot, abzulehnen). Ein taarof-Teufelskreis findet oft beim Essen statt: Dem Gast wird sowieso schon die größte Portion aufgetischt, aber sobald der Teller leer ist, wird er wieder aufgefüllt – auch gegen die Proteste des bis oben hin vollgestopften Reisenden. Die Mutter gebietet mir zu essen (da der Super-GAU ist, dass der Gast hungrig bleibt) ➢ ich sage (wahrheitsgemäß) nein, danke, ich bin pappsatt ➢ sie denkt, ich bin noch hungrig, würde aber aus Höflichkeit nein sagen ➢ sie insistiert ➢ ich lehne dankend ab ➢ sie insistiert zum dritten Mal ➢ ich kann es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, noch einmal abzulehnen, und esse ein wenig ➢ sie denkt, dass sie von Anfang an recht hatte und ich wirklich hungrig und nur zu schüchtern/höflich war, und tischt mir mehr auf ➢ der Teufelskreis beginnt von Neuem. Das waren zugegebenermaßen allerdings die gravierendsten “Probleme”, die ich mit meinen Gastgeberfamilien hatte.

Eine Sache, an die ich nicht besonders viel gedacht hatte, war, was iranische junge Leute in ihrer Freizeit machen. Umso interessanter fand ich es, zu sehen, dass sie ihren europäischen Counterparts in den meisten Sachen ähneln – iranische Jugendliche gehen genauso ins Kino, in den Park oder in Cafés oder treffen sich mit Freund oder Freundin (welche allerdings im Großteil der Fälle vor den Eltern geheim gehalten werden). Nur ist es im Iran besonders für Mädchen nicht immer einfach, die Erlaubnis für diese (für uns vollkommen harmlosen) Aktivitäten zu bekommen – besonders in traditionelleren Familien herrscht oft eher die Meinung, dass das Mädchen außerhalb Schul- oder Unizeiten lieber zuhause bleiben sollte, um nicht von unvorhersehbaren Einflüssen korrumpiert zu werden. Die typische Universitätserfahrung ist auch eine andere als beispielsweise in Deutschland – da Mädchen und Jungen bis zur Hochschulreife strikt getrennt sind, ist die Universität für viele die erste Gelegenheit, mit dem anderen Geschlecht in Berührung zu kommen. Auch hier macht sich die unterschiedliche Beziehung zu den Eltern bemerkbar – vielen jungen Leuten wird verboten, zum Studieren in eine andere Stadt und somit außerhalb des Dunstkreises der Familie zu ziehen, und auch die Studienrichtung ist oft nicht freiwillig gewählt: Maschinenbau steht hoch im Kurs und soll nicht so schwer wie z.B. in Deutschland sein, sodass ich hier viele Leute kennengelernt habe, die eigentlich Maschinenbau oder Ingenieurwesen studiert hatten, aber jetzt in einem komplett unterschiedlichen Bereich arbeiten (Jobs bekommt man übrigens ausschließlich durch Kontakte).

So viel erstmal als kleine Einführung in ein Land, das vielen Menschen zwar kaum durchschaut, aber dennoch (oder eher gerade deshalb) irgendwie vage bedrohlich vorkommt – der Iran ist ein spannendes, konfliktgeladenes, herzliches, an Kultur und Geschichte unglaublich reiches, anstrengendes und doch umso mehr belohnendes Reiseziel, was ich euch wirklich nicht stark genug ans Herz legen kann. In Zukunft folgen hoffentlich noch einige Blogposts, um genau diesen Punkt zu unterstreichen. Bis dahin, khodāfez!

2 thoughts on “Iran: Eine Einführung”

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